Medizin zum Selbermachen Rundbrief September 2020

Angst macht (nur) krank! Teil V – Die größte Angst ist …?

Allgemein wird angenommen, die größte Angst des Menschen wäre diejenige vor dem physischen Ende auf Erden, vor dem, was wir allgemein mit Tod bezeichnen.

Wie jedoch aus der Beobachtung von Handlungsabläufen und auch aus Gesprächen mit Menschen, die sich nahe dem physischen Ende ihrer Existenz wähnen, abzuleiten ist, gibt es da eine deutlich größere Angst. Sie wirkt in uns allerdings nicht erst am vermeintlichen Lebensende, sondern schon viel früher.

Es ist die Angst Niemand zu sein.

Wäre die Angst vor dem reinen physischen Ende sehr stark, dann müssten andere Handlungsweisen, andere gedankliche Prioritäten angetroffen werden. Es müsste sich beispielsweise alles um eine mögliche weitere Lebenserhaltung drehen. Dagegen zeigt die Praxis, zum Beispiel die Erfahrungen in der therapeutischen Praxis und auch die Erfahrungen in der Sterbebegleitung, dass mögliche Wege zur Wiederherstellung von Gesundheit oder zumindest Verbesserung von Symptomen von den Betroffenen oft „links liegen gelassen werden“. Viele Therapeuten sagen dann, „die Patienten wollen lieber ihre Krankheit behalten, weil sie dann eine Geschichte haben“. Ein bekanntes Phänomen.

Dieses typische „Aufgeben“ gilt jedoch keineswegs für vielerlei Aktivitäten anderer Art. Ich habe es vor langer Zeit schon als „Pharao-Effekt“ bezeichnet. Eine Art hektische Betriebsamkeit um weiterhin, über den Tod hinaus, „Jemand“ zu sein.

Das weithin bekannte Verteilen von Gegenständen an Kinder und/oder Enkelkinder gehört dazu. Ebenso „das Ausgraben“ von Fotoalben, Sterbebildchen von Verwandten und anderen Erinnerungen. Auch verbal werden vergangene Leistungen wieder sehr viel mehr thematisiert als in all den Jahren zuvor. Mit anderen Worten: es werden „Schnüre“ in die Zukunft und in die Vergangenheit gespannt oder Anker ausgeworfen. Das alles mit überdeutlich mehr Eifer und Drang als ein Kümmern um Genesung des Körpers.

Freilich wird oft eingeräumt, dass die Menschen (un)bewusst ihr körperliches Ende „spüren“, welches nicht aufhaltbar sei und sich deshalb ans Aufräumen machen, daran die Dinge zu regeln, wie man sagt. Doch mit der Zeit und mit der Anzahl der Erlebnisse in der Sterbebegleitung kristallisierte sich für mich diese Wahrnehmung heraus, dass die „Angst davor Niemand zu sein“, die eigentliche treibende Kraft hinter dem beschriebenen Verhalten ist. Die Angst vor einem Tod unserer verschiedenen Rollen. Die Rolle als Vater/Mutter, als Oma/Opa, als Bruder/Schwester, als Nachbar, als Vereinsmitglied, als Bekanntheit, als Autor, als Kunst-Sammler, … .

Es werden „Jemand-Anker“ ausgeworfen. Das Enkelkind bekommt die Armbanduhr, damit die Oma/der Opa darin weiter existent ist. Besucher bekommen wieder alte „Heldengeschichten“ erzählt. Kunstgegenstände werden übereignet. Oder es soll sichergestellt werden, dass Fotos, Portraits, von „besseren Tagen“ bei den Verwandten auf den Kommoden verbleiben.

Diese betriebsamen, äußerlichen und innerlichen Aktivitäten zur Sicherstellung unserer Rolle sind für die dringend anstehenden Loslassprozesse jedoch eher hinderlich. Gerade dieser Punkt ist nicht nur für Menschen am vermuteten Lebensende wichtig, sondern schon vom jungen Erwachsenenalter an. Vielleicht noch früher. Die Etablierung einer Rolle hindert uns zeitlebens am Loslassen. In allen Ebenen unseres Daseins.

Als ich vor über 20 Jahren in der Ausbildung zum Sterbebegleiter war, gab es eine Übung. Man sollte einen Brief an jemanden schreiben, der nicht abgesendet, sondern einfach aufbewahrt wird. Als ob man einen Pfeil in die Zukunft schießt, dessen Eintreffen man nicht kennt und trotzdem weiß, dass man Jemandem als Jemand geschrieben hat und also selbst Jemand ist.

Was könnte man tun, um die Angst davor zu überwinden Niemand (mehr) zu sein?

Die Identifikation mit Rollen, die Definition des eigenen Wesens über die die Wechselbeziehung zu anderen Wesen, ist sehr stark in uns verankert.

Ich habe schwer kranken Menschen wiederholt empfohlen, einfach alles hinter sich zu lassen und zu diesen oder jenen verbliebenen Naturvölkern zu gehen, von denen man weiß, dass sie in jedem kleinen Dorf einen Heiler oder eine Heilerin haben, der/die gut helfen könnte. Die Reaktionen bezogen sich nicht auf eventuelle Kosten, die Organisation oder sonstiges. Die Reaktionen bezogen sich auf die Angst, die eigene Rolle, in der körperlichen oder imaginären Präsenz bei den Rollengebern, zu verlieren. „Dann bin ich so weit weg von meinen Kindern/Enkelkindern.“ oder „Da wird mein Mann, meine Frau nicht mitgehen.“ oder „Was soll mein Hausarzt von mir denken.“

Wie kann man angesichts solcher Denkweisen annehmen, dass des Menschen größte Angst, die vor dem körperlichen Tod sei?

Einen Rat zur Auflösung der größten Angst will ich hier also nicht angeben. Das ist auch gar nicht erforderlich. Der- und diejenige, welche das Dilemma verstanden haben, werden durch diesen Impuls allein einen guten Weg finden.